Ahoi, nach Leningrad
August 1962. Flottenbesuch! Ein Wort elektrisierte. Mal raus auf See, ein anderes Land sehen. Die Marine machte es möglich. Das Ziel hieß Leningrad. Heute St. Petersburg. Als Flaggschiff fungierte das Küstenschutzschiff„Karl Liebknecht". Mit dabei waren die MLR-Schiffe „Erfurt", „Magdeburg" und „Rostock". Konteradmiral Heinz Neukirchen, als damaliger Interimschef der Volksmarine, hatte die Leitung. Konteradmiral Wilhelm Ehm hatte sich entschlossen, gemeinsam mit anderen Offizieren und unterstützt von einem Dolmetscher, für zwei Jahre die Schulbank auf der sowjetischen Marineakademie zu drücken.
Diesem Schiffsbesuch in der „Wiege der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" wurde besondere Bedeutung zugesprochen. Nachdem schon Jahr für Jahr Häfen in Polen angelaufen worden waren, sollte nun der „Erste offizielle Flottenbesuch in der UdSSR" die Waffenbrüderschaft zwischen den verbündeten sozialistischen Ostseeflotten vertiefen. Zwar hatte es schon eine Schulschiffreise des Dampfers „Ernst Thälmann" unter Leitung von Kapitän zur See Friedrich Elchlepp 1958 gegeben, aber er wurde nur als inoffizieller Schiffsbesuch gewertet. Auch die Besuche der Küstenschutzschiffe zu den polnischen Tagen des Meeres 1957 bis 1961 in Gdynia und Sczeczin waren eigentlich keine „offiziellen", das heißt über den diplomatischen Weg vereinbarte Flottenbesuche.
Am 22. August verließ der Verband den Rostocker Stadthafen. Amiral Verner hatte es sich nicht nehmen lassen, die Schiffe und ihre Besatzungen selbst zu verabschieden. Die Marine hing ihm immer am Herzen, obwohl er inzwischen zum Zweiten Mann der NVA hinter dem Verteidigungsminister Heinz Hoffmann aufgestiegen war.
Eingangs des Finnischen Meerbusens, vor der Insel Hogland, übergab der vorausgeschickte Versorger „Timmendorf` Verpflegung. Als die Ladeluken geöffnet wurden, zeigte sich der größte Teil der Nahrungsmittel verdorben. Brot war von Schimmel durchzogen, Tomaten zermatscht. Kühllasten gab es damals noch nicht. Dieses „Lehrgeld" aber dämpfte die Hochstimmung auf die kommenden Besuchstage nicht.
Vor der Seefestung Kronstadt wartete der Kreuzer „Kirow". Die 1.OOOköpfige Besatzung in Paradeaufstellung angetreten. „Karl Liebknecht" eröffnete den traditionellen Gruß: 21 Schuss. Dann blitzte es auf „Kirow" 21 mal auf. Dumpf grollte der Geschützdonner über das Wasser. Die Hymnen wurden jeweils gleichzeitig von den Bordorchestern gespielt. Mit Hurra grüßten die Besatzungen der deutschen Schiffe eine größere Gruppe Matrosen auf einer der Kronstadt-Bastionen. Sie schwenkten ihre Mützen. Es waren die Besatzungen zweier KSS der Volksmarine, die zur Modernisierung in Kronstadt weilten. Ihr Heimweh war offenkundig.
Dann die Stadt. Das Venedig des Nordens. Großes Staunen vor Weltkulturschätzen wie Winterpalais, Eremitage, Park von Peterhof Zarskoje Selo, Kreuzer Aurora, Smolny, Marinemuseum. Auf der Straße kommt ein alter Mann wie ein russischer Bär auf mich zu, zerquetscht mich um ein Haar, schmatzt mich nach russischer Sitte ab und raunt mir mit Tränen in den Augen zu: „Wir wollen niemals wieder Krieg führen gegen einander..."
Am folgenden Tag stehen wir erschüttert im Piskarjow-Ehrenhain. 600.000 Tausend Leningrader, verhungert und erfroren liegen hier in riesigen Massengräbern. Opfer der 900tägigen Blockade der deutschen Wehrmacht. Nein, keiner von unserer Generation der Deutschen wollte einen solchen Krieg jemals wieder erleben müssen.
In diesem Zusammenhang schäme ich mich noch heute über einen typisch deutschen Militärblödsinn, den Neukirchen gleich am ersten Tag des Aufenthaltes losließ. Das Leningrader Dokumentarfilmstudio wollte einen Film über den Flottenbesuch drehen. Regisseur und Kameramann, die wir schon beim Festmachen kennen gelernt hatten, da wir auch einen 16mm Film drehten, baten darum, einige Matrosen zu bekommen, die sie dann beim Regie geführten Stadtbummel drehen wollten. Am anderen Morgen zur festgesetzten Stunde traten bis auf die Schiffswachen fast alle Besatzungen vor den Schiffen auf der Asphaltstraße in Kolonne an. Ob dies einem Missverständnis geschuldet war oder einfach Verhaltensunsicherheit, es war nicht festzustellen. Jedenfalls marschierten nun stolz geschwellt, Blick geradeaus, vorn die Offiziere und Meister in Blau, dahinter in weißen Ex-Blusen die Mannschaften. Faktisch bewegte sich eine deutsche Kompanie im Gleichschritt und militärisch exakt entlang der Newa, der Admiralität und dem Gebäude des Generalstabes bis zum Winterpalais. Ich hätte im Boden versinken können. Welch ein Bild: Was die Wehrmacht nach 900 Tagen Belagerung nicht geschafft hatte - jetzt schritten deutsche Soldaten durch die Heldenstadt. Das sowjetische Filmteam war konsterniert, sagte aber nichts. Höflich lief der Kameramann neben der Kolonne einher und machte einige Filmbilder mit Hintergrund. Anderentags konnte ich dann erreichen, dass tatsächlich nur fünf Matrosen für die Kamera zur Verfügung standen.
1989 machte die Bundesmarine ebenfalls einen Flottenbesuch in Leningrad. Das Besuchsprogramm war nahezu identisch. Danach las man in den bundesdeutschen Zeitungen: „Nach 80 Jahren erster deutscher Flottenbesuch an der Newa." Die damalige Marinegeschichtsschreibung hatte eben ihre Merkwürdigkeiten.
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