Ich habe gewusst, was ich tue
Interview mit Wolfgang Maercker (2005)
Wann haben Sie begonnen zu schreiben?
Das war Anfang der 70er Jahre mit epigonalen Texten voller Leidenschaft und Botschaft, inspiriert von Biermann und Kunze. Wir waren ein Freundeskreis, der wusste, wie die Welt besser zu machen wäre. Demokratischer Sozialismus sollte es sein, Allende, Brandt, Dubcek waren die Lichtgestalten. Der Einmarsch in die CSSR 1968 hatte uns stark beeinflusst.
Wie haben Sie Prag 1968 erlebt? Welche Rolle spielte das in Ihrem Leben?
Eine prägende. Ich habe zum ersten Mal erlebt, dass es kein Spaß war, gegen das politische System aufzumucken.
Ich war in der 11. Klasse. Der Einmarsch war ja im August, wir hatten Schulferien. Am ersten Schultag sollten wir eine Erklärung unterschreiben, in der die Maßnahmen der Staatsführung der DDR, die Ereignisse in der CSSR betreffend, rückhaltlos begrüßt wurden.
Als Schüler?
Als Schüler. Einige haben nicht unterschrieben, ich war dabei. Ich hatte den Rückhalt meiner Eltern und der Jungen Gemeinde. Es ging knapp am Schulverweis vorbei. Die Gespräche mit dem Direktor und dem Parteisekretär haben mir klar gemacht, es gibt eine Kluft: Die sind dort und wir sind hier.
Auf welche Schule gingen Sie?
Auf die Thälmann-Oberschule in Rostock. Der altsprachliche Zug hatte noch Reste von bürgerlich-humanistischem Gymnasium und war der Schulleitung ein Dorn im Auge. Wir hatten einen Choleriker als Direktor, der eine Schulversammlung mit Sätzen eröffnet hat wie: „Das entscheidende Jahr der Klassenschlacht ist hereingebrochen!" Das war gar nicht mal 1968.
Können Sie beschreiben, in welchem Umfeld Ihre ersten Texte entstanden sind? Sie waren Student?
Ich war Medizinstudent mit Kontakten zu Theologen, die Junge Gemeinde in Rostock spielte eine Rolle. Wir waren eine lose Gruppe und wollten die Gesellschaft mit Gedichten verbessern. Wie gesagt, Wolf Biermann und Reiner Kunze waren die Vorbilder.
Und wann haben Sie diese Art zu schreiben gelassen? Sie erzählten, dass Sie Ihre ersten Texte nicht aufbewahrt haben.
Schon bald kam die genauere Beschäftigung mit der Sache selbst, der Poesie nämlich, der Lyrik als Technik und als Kunstform. Da stößt man dann unweigerlich auf die wichtigen Namen. Für mich waren und sind das: Huchel, Celan, Trakl, Bachmann, Arendt, Kaschnitz, Benn, Brecht, Ernst Meister, Bobrowski. Die Italiener, die Spanier.
Das ist natürlich etwas ganz anderes, hat eine ganz andere geistige und künstlerische Dimension als die Texte von Kunze oder Biermann. Ich bin viele Jahre sehr in Celans Spuren gelaufen. Aber man kommt irgendwann in eine Sackgasse: Die Texte werden um so epigonaler, je besser sie werden. Eine vertrackte Situation. Ich hab dann Schritt für Schritt Eigenes versucht. Ich glaub, ich habe mit Ende zwanzig die ersten leidlich guten Gedichte geschrieben. Nicht viele. Ich bin auch heute noch ein langsamer Arbeiter.
Also ist es nicht so, dass Sie regelmäßig schreiben müssen und einen bestimmten Rhythmus haben?
Nein. Es kommt mir irgendwann etwas ein - manchmal fünf Texte in zwei Wochen, manchmal ein halbes Jahr nichts. Wenn eine Erfahrung, ein Bild, eine Stimmung, aufgeschrieben sein wollen, tue ich es in der Form des Gedichts. Das ist die Form, die ich am besten gelernt habe. Und es geht nur, wenn das Primärerlebnis nicht anders beschrieben oder erklärt werden kann. Manches kann man malen.
Sie malen auch?
Ja. Ich arbeite in einem Malkreis mit, unter Leitung von Andreas Homberg. Das ist der Versuch, neben der Lyrik und der Musik eine andere Ausdrucksform zu finden. Malzeug liegt auf dem Schreibtisch immer bereit.
Aber nicht in der Klinik?
Nein, das nicht. Da funktioniert der Kopf anders, nämlich in streng algorithmischem Denken. Man braucht das, um zu einem klaren und verwertbaren Ergebnis zu kommen. Dieses Denken ist dem künstlerischen Empfinden völlig konträr, das spielerisch und ergebnisoffen sein muss. Ein Probieren, bei dem es möglich ist, dass es scheitert. Und das geht in der praktischen Medizin nicht, da muss man schon zu einem ordentlichen Ergebnis kommen.
Innerhalb einer möglichst kurzen Zeit.
Das auch noch. Also effektiv soll es sein und erfolgreich muss es sein. Das sind zwei Begriffe, die im künstlerischen Schaffen keine Rolle spielen.
Das heißt, dass Sie im Schreiben und Malen ein starkes Gegengewicht haben?
Ja. Es mindert die Tendenz, zu verblöden, Fachidiot zu werden.
Nach Neubrandenburg sind Sie nach dem Studium gekommen, Mitte der 70erJahre. Wie haben Sie die Stadt im Vergleich zu Ihrer Heimatstadt Rostock wahrgenommen?
Ziemlich provinziell. Schmales Kulturangebot. Was mir erst langsam klar wurde: Es ist eine nicht organisch gewachsene Stadt. Keine Uni, kaum ein Bildungsbürgertum. Eine hübsche Ackerbürgerstadt, in der übrigens Fritz Reuter seine besten Jahre verbracht hat, die in den 50er Jahren zu einer sozialistischen Bezirksmetropole hochgepuscht worden war. Das hat die Stadt nie verkraftet. Armee, Bonzen, Stasioffiziere, Funktionäre jeder Art - die großen Städte in der DDR haben das ja ausgleichen können dank ihrer Traditionen. Neubrandenburg nicht. Es gab auch hier Gegenpole: Das Puppentheater, die Bildenden Künstler, Einzeltäter wie Liedermacher, Hobbydichter. Eine wirkliche Literaturszene gab es mangels Qualität nicht, Brigitte Reimann war schon tot.
Hatten Sie von der gehört, als Sie hierher kamen? Oder redete man damals noch nicht von ihr?
Doch, man redete von ihr. Aber es war schon Geschichte. Die anderen Literaten hier spielten keine wesentliche Rolle. Allenfalls Margarete Neumann. Eine interessante Frau, die Anna Seghers und Arnold Zweig persönlich kannte. Das war für unseren damaligen Hobby-Literaten-Kreis ein Grund, sie in ihrem malerischen einsamen Haus am See zu besuchen. Sie hat uns Hinweise zu unseren Arbeiten gegeben, die wir ernst genommen haben.
Sie haben also einerseits das Nichtorganische der Stadt bemerkt, andererseits aber auch interessante Leute gefunden?
Wenn es ein kulturell-geistiges Überangebot gibt, hat das natürlich den Nachteil, dass man nicht gezwungen ist, zu suchen. Man kann dann mit geschlossenen Augen auswählen. Hier musste man suchen. Und das hatte den Vorteil, dass man auch gefunden hat. Zum Beispiel die einzeln vor sich hin dichtenden Leute, die später für eine gewisse Zeit eine Gruppe geworden sind.
Das war Anfang der 80erJahre?
Ja. Es war, was den literarischen Austausch angeht, eine sehr intensive Zeit. Da waren Hanne Zaddach, Rainer Prachtl, Wera Koseleck, Harriet Suchodoletz, Hans-Christian Braun, Manfred Buller, andere noch. Wir trafen uns privat, um einander die neuesten Texte vorzulesen, es ging fair und konstruktiv zu. Mein Freund Friedhelm Mäker - auch ein Lyriker - aus Thüringen kam gelegentlich auch hinzu und gab dem Ganzen eine zusätzliche Würze.
Sie haben erzählt, dass die „Berliner Begegnungen" 1981 initiiert von Stephan Hermlin, Sie motiviert haben zu eigenen Aktivitäten.
Das war eine Grenzerfahrung. Ich war Anfang '82 zu einer beruflichen Hospitation in Erfurt und hatte nach der Arbeit viel Zeit zum Nachdenken. Da kam mir die Idee, einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden zu verfassen, die moralische Aufrüstung der DDR betreffend, die damals gerade im Gange war. Stichworte waren der Wehrkundeunterricht, das Kriegsspielzeug, das immer martialischer werdende Bild des „Klassenfeindes". Ich habe also einen Brief entworfen, höflich, moderat, es ging ja um den FRIEDEN, Tonfall besorgter Staatsbürger. Diesen Brief habe ich dann meinen Neubrandenburger Dichterfreunden zum Unterschreiben vorgelegt.
Es war eine Katastrophe. Fast alle waren entsetzt. Ich hatte dann einen lichten Moment und habe den Text verbrannt. Sonderbarerweise hat die Stasi - es lief zu der Zeit ein OV gegen mich - den Inhalt des Briefes nicht erkundschaftet. Es war in doppelter Weise eine Grenzerfahrung: Zum einen hab ich gemerkt, dass ich nicht die Haltung meiner Freunde repräsentiere und zum andern wurde mir klar, dass solche Aktion schlicht eine Gefängnisstrafe bedeuten würde.
Wie haben Sie damals das Literaturzentrum in Neubrandenburg wahrgenommen? Ist es zu einer Begegnung gekommen?
Da war zunächst ein Besuch beim Zirkel Schreibender Arbeiter, vermittelt von Hanne Zaddach. Aber das war eine eher lächerliche Veranstaltung. Dann gab es den Hinweis, dass es beim Literaturzentrum einen Kreis für junge Autoren gäbe. Das schien interessanter. Man konnte auf kompetente Beratung hoffen und eventuell auf Vermittlung an einen Verlag.
Da war also Neugier von Ihrer Seite da, das anzuschauen?
Ja. Es gab die Hoffnung auf Kompetenz. Außerdem die Neugier auf Leute mit der gleichen Wellenlänge. Und natürlich Eitelkeit: Ich lese hier vor Leuten, die etwas davon verstehen.
Es war jedoch eine Enttäuschung: Crepon sagte, dass er erstens nichts von Lyrik verstehe - also uns Lyrikern nicht helfen könne - und zweitens, dass er keine Beziehungen zu Verlagen habe - uns also keine Veröffentlichungen vermitteln könne. Da war es logisch, dass wir gesagt haben: Einander Texte vorlesen, das können wir auch allein, dazu brauchen wir das Literaturzentrum im Wiekhaus nicht. Und unser Projekt wurde dann ja auch besser, weil wir die Bildenden Künstler mit dazugenommen haben. Wir haben dann Lesungen in etwas größerem Rahmen im Atelier gemacht, mit passenden Bildern und spannenden Diskussionen nicht nur über Literatur.
Und wie haben Sie den Ort, das Literaturzentrum als Einrichtung, damals wahrgenommen?
Es war etwas rätselhaft, was genau die Aufgabe des LZ war. Mir wurde nicht klar, was drei oder vier hauptamtlich dort Beschäftigte den ganzen Tag zu tun hatten. Die Förderung junger Autoren hielt sich ja, wie gesagt, sehr in Grenzen. Das Fallada-Archiv, na gut. Auf das, was wir heute über die massiven Bemühungen der Staatssicherheit wissen, bin ich, zumindest in dem Ausmaß, nicht gekommen. Dass die Stasi mit am Tisch saß, war wohl allen klar, wir wussten, wo wir lebten. Aber wir hatten ja keine subversiven Ambitionen. Wir wollten über Literatur reden, besonders über die eigene.
Wie beobachten Sie heute die Debatte darum?
Das ist einfach peinlich. Eine ehrliche Geschichtsaufarbeitung hätte spätestens mit der Umstrukturierung des LZ 1992/93 geschehen müssen, und zwar von den handelnden Personen dort.
Dass Crepon IM war, stand in der Zeitung. Es hätte sehr nahe gelegen, dass seine ehemaligen Mitarbeiterinnen sich hierzu und zu ihren eigenen eventuellen Verstrickungen mit den Organen öffentlich und glaubhaft geäußert hätten. Es ist bezeichnend, dass das heute durch Druck von außen passiert.
Man könnte sagen, die Auseinandersetzung hätte früher stattfinden können. Haben die Gründe dafür, dass es nicht früher geschah, mit Neubrandenburg zu tun?
Das weiß ich nicht. Das hängt sicher zum einen mit den handelnden Personen im Literaturzentrum und im Vorstand des Vereins zusammen, zum anderen mit dem allgemeinen Umfeld der Stadt. Es gab in Neubrandenburg fast zweitausend hauptamtliche Mitarbeiter des MfS. Ich glaube, die sind nicht alle fortgezogen.
Was haben Sie damals - Anfang der 80er Jahre - vermutet, dass das MfS in Ihre Richtung unternehmen würde? Was haben Sie gewusst?
Es gab immer diese unbestimmte Ahnung, überwacht zu werden. Genaues wusste man nicht. Bei mir war es relativ einfach, weil im Zusammenhang mit einem OV zwei Verhöre stattfanden, bei denen sich die beiden Offiziere als Tschekisten zu erkennen gaben, mir offen drohten und auch ein bisschen mit ihrem geheimen Wissen prahlten. Spätesten von da ab - das war etwa 1983 - wusste ich genau Bescheid.
Haben diese Verhöre Sie auch dahingehend beeinflusst, dass Sie die Aktivitäten in Ihrem Kreis danach beschränkt oder eingeschränkt haben?
Ja. Natürlich verhielten wir uns vorsichtig. Ich wusste jetzt zum Beispiel, dass meine Wohnung abgehört wurde. Parallel dazu lief eine gezielte Desinformation. Einem Freund wurde bei einem Stasi-Verhör gesagt, er solle sich mit der „Zusammenarbeit" nicht so zieren, der Maercker tue es doch schon längst. Das sprach sich herum und hat die Freundschaften nachhaltig beschädigt.
Das heißt, danach hat es dann kein Reden darüber mehr gegeben? Das Misstrauen war da?
Ja. Es gibt nur wenige Freundschaften aus der Zeit, die bis heute
stabil sind.
Das ist also, was „Zersetzung" konkret bedeutet?
Ich fühle mich nicht als Opfer. Ich habe gewusst, was ich tue, habe das Risiko ungefähr gekannt. Offenbar waren es die wirklich stabilen Freundschaften, die bis heute halten.